„Frau S. ist die Erzieherin von Metin. Sie kennt ihn seit 17 Monaten. Metin ist 48;1 Monate [Anmerkung: gerade vier Jahre] alt und stammt aus einer türkischen Familie, in der zu Hause überwiegend türkisch gesprochen wird. (…) Frau S. ist aufgefallen, dass Metin nur unregelmäßig den Kindergarten besucht und dort kaum Kontakt zu anderen Kindern hat. Gegenüber anderen Kindern verhält er sich nicht aggressiv. Er ist eher etwas gehemmt, ängstlich und zurückgezogen; am liebsten spielt er allein. Dabei kann er sich ausdauernd und konzentriert beschäftigen. Besonders schwerwiegend empfindet Frau S. seine sprachlichen Probleme, die die Schwierigkeiten im sozialen Bereich deutlich verstärken.“ (Petermann, Petermann & Koglin, 2017, S. 40-41)
Versetzen Sie sich in die Situation von Frau S.. Welche der im Folgenden genannten Überlegungen und möglichen Vorgehensweisen sind sinnvoll und welche eher fragwürdig?
sinnvoll
fragwürdig
Die Eltern sprechen kein Deutsch. Daher ist es klar, dass das Kind es auch nicht kann.
Dies ist ein Vorurteil. Es können viele weitere Faktoren eine Rolle spielen, z.B. die kognitive Entwicklung, Entwicklungsstörungen und/oder familiäre Bedingungen.
Ich werde das Kind in den nächsten Tagen genau beobachten und mit ihm die Aufgaben eines Entwicklungsscreenings durchführen.
Ja, es ist sinnvoll nach der Alltagsbeobachtung eine systematische Beobachtung mithilfe eines Entwicklungsscreenings durchzuführen. Dadurch kann überprüft werden, wie auffällig das Verhalten des Kindes im Vergleich zu anderen Kindern seines Alters in verschiedenen Entwicklungsbereichen ist.
Ich führe ein Gespräch mit den Eltern, um ihre Sicht zu erfahren.
Ja, es ist wichtig, mit den Eltern ins Gespräch zu gehen. Dies muss gut vorbereitet sein und verschiedene Aspekte berücksichtigen, u.a. Kompetenzen der Gesprächsführung, Wissen über den Entwicklungsstand des Kindes und Informationen zum familialen Hintergrund.
Ich führe mit dem Kind einen Sprachtest durch. Dann habe ich alle Informationen, die ich brauche, um das Kind richtig zu fördern.
Das ist fragwürdig. Ein Sprachtest kann helfen zu erkennen, welche sprachlichen Defizite bei dem Kind tatsächlich vorliegen und wie gravierend diese sind. Das Testergebnis lässt jedoch nicht unbedingt eine Schlussfolgerung auf die Ursachen und die angemessene Förderung zu. Insbesondere bei mehrsprachig aufwachsenden Kindern sind weitere Informationen einzubeziehen.
Metin ist erst vier Jahre alt. Bis er in die Schule kommt, wird er die Sprache noch lernen und dann auch mehr mit anderen Kindern spielen.
Die Vorgehensweise, die aus dieser Haltung folgt, bezeichnen wir als Abwarten. Angemessen ist dies in diesem Fall nicht: Zum einen ist eine Abklärung der Hintergründe für die Auffälligkeiten in Metins Verhalten notwendig, zum anderen ist eine frühzeitige Förderung sinnvoll, damit sich die Schwierigkeiten nicht verfestigen.
Ich sage den Eltern, sie sollen mit dem Kind Deutsch üben.
Es ist zwar wichtig, die Eltern in die Förderung des Kindes einzubeziehen. Gleichzeitig können die Eltern nur das gut weitergeben, was sie selbst können. In dem Fall sollten sie Türkisch mit dem Kind sprechen und das Kind regelmäßig in den Kindergarten bringen, damit es dort viel Kontakt mit der deutschen Sprache hat.
Es ist gut, dass ich verschiedene Möglichkeiten kenne, mir ein Bild von der Entwicklung des Kindes zu machen.
Ja, es ist wichtig, viele Verfahren zur Einschätzung der Entwicklung zu kennen. Nur so kann ein passendes Instrument ausgewählt werden, z.B. ein Beobachtungsbogen, ein Screening oder ein Test.
In der Situation von Frau S. gäbe es sicher weitere Überlegungen oder Möglichkeiten des Vorgehens. In den genannten Aussagen ist eine Auswahl benannt.
Zum Einsatz von Verfahren zur Entwicklungsbeurteilung sei erklärt: Es ist eine Aufgabe von pädagogischen Fachkräften, Kinder zu beobachten, um diese angemessen in ihrer Entwicklung begleiten und unterstützen zu können. Neben einer Beobachtung im Alltag sind Verfahren zur systematischen Entwicklungsbeurteilung einzusetzen. Hier unterscheiden wir zwischen Beobachtungsbögen, gezielten Entwicklungsscreenings und umfangreichen, hochstandardisierten Tests. Je nach Anlass und Ziel eignen sich unterschiedliche Verfahren. Um aus der Menge verfügbarer Verfahren eine angemessene Auswahl zu treffen, sind viele Aspekte zu berücksichtigen, die im Studium vermittelt werden.
Das hier beschriebene Beispiel stammt aus dem Verfahren „Entwicklungsbeobachtung und -dokumentation EBD 3-48“ von Petermann et al. (2017).
Zu reflektieren wären in diesem Beispiel mögliche Vorurteile: Welche Gedanken und Überlegungen hätten Sie, wenn das Kind Diego hieße und aus Spanien käme? Welchen Einfluss hat der Migrationshintergrund (des Kindes und Ihr eigener) auf Ihr Denken und Fühlen und evtl. auch Handeln?
Aufgabe 2 von 3
BEOBACHTUNG VON ENTWICKLUNG IN VERSCHIEDENEN BEREICHEN
Frau S. hat den vierjährigen Metin aus unserem Fallbeispiel genau beobachtet und mithilfe des Verfahrens „Entwicklungsbeobachtung und -dokumentation“ (Petermann et al., 2017) eine Bewertung vorgenommen. Das Verfahren ermöglicht der pädagogischen Fachkraft anhand von konkreten Aufgaben eine Einschätzung, ob die Entwicklung des Kindes in den von Petermann et al. (2017) definierten sechs Bereichen unauffällig verläuft. In den folgenden Aussagen werden Original-Aufgaben von Petermann et al. (2017, S. 161-171, 193) zu den verschiedenen Entwicklungsbereichen benannt und ebenso die hierbei gezeigten Kompetenzen von Metin (Petermann et al., 2017, S. 40-41). Es sind pro Bereich vier Aufgaben und damit maximal vier Punkte zu erreichen.
Ordnen Sie die folgenden Aussagen den unten stehenden ersten drei von sechs Entwicklungsbereichen zu und achten Sie auf die von Metin gezeigten Kompetenzen und die damit erreichten Punkte.
Haltung und Bewegung (Grobmotorik)
Fein- und Visuomotorik
Soziale Entwicklung
Metin „fährt Dreirad mit sicherem Treten und Lenken“ (Petermann et al., 2017, S. 161).
Es ist eine Bewegung der Gliedmaßen und wird der Grobmotorik zugeordnet. Metin kann dies und erhält einen Punkt.
Er „fängt einen großen Ball mit den Händen“ (Petermann et al., 2017, S. 161).
Die Koordination der Arme gehört zur Grobmotorik. Metin kann dies und erhält einen Punkt.
Metin kann „seine Kraft beim Spielen richtig dosieren“ (Petermann et al., 2017, S. 40).
Wenn die Kraft des Körpers eingesetzt wird, gehört dies zur Bewegungssteuerung bzw. Grobmotorik. Metin kann dies und erhält einen Punkt.
Er springt „mit beiden Beinen bis zu einer 30-50 cm entfernten Markierung“ (Petermann et al., 2017, S. 40).
Der gezielte Einsatz der Beine gehört zur Grobmotorik. Metin kann einen Schlusssprung ausführen und erhält einen Punkt.
„Metin kann mit einem Schlüssel ein Schloss öffnen und auch wieder schließen.“ (Petermann et al., 2017, S. 40-41)
Eine Steckverbindung mit angemessener Kraftdosierung herzustellen ist eine feinmotorische Fertigkeit. Metin kann dies und erhält einen Punkt.
Er „schneidet gut mit einer Kinderschere“ (Petermann et al., 2017, S. 41).
Das Schneiden mit einer Schere ist eine besondere Fertigkeit der Finger unter Kontrolle der Augen und mit dosierter Kraft. Metin kann dies und erhält einen Punkt.
Metin „hält den Stift beim Malen im Drei-Punkt-Griff“ (Petermann et al., 2017, S. 41).
Das Halten von Schreibwerkzeugen mit Daumen, Mittel- und Zeigefinger (Drei-Punkt-Griff) gehört zur Feinmotorik. Metin kann dies und erhält einen Punkt.
Metin „hat das Nachfahren eines Labyrinths mit großer Freude geschafft“ (Petermann et al., 2017, S. 41).
Der Umgang mit Schreibwerkzeugen ist eine feinmotorische Fertigkeit. Um eine Linie innerhalb einer Begrenzung zu ziehen, bedarf es ausreichender Auge-Hand-Koordination. Metin hat gezeigt, dass er dies kann und erhält einen Punkt.
Frau S. hat im Alltag „bemerkt, dass Metin Grenzen gut akzeptieren kann“ (Petermann et al., 2017, S. 41).
Es gehört zu einem langfristig guten Miteinander, also zur sozialen Kompetenz, allgemeine Regeln und Normen zu beachten. Dies beinhaltet für Kinder auch, auf Anweisungen von Erwachsenen zu hören und Grenzen zu akzeptieren. Metin kann dies und erhält einen Punkt.
Frau S. hat „schon häufig bemerkt, dass Metin (…) sehr gut und oft alleine spielt“ (Petermann et al., 2017, S. 41).
Sich allein zu beschäftigen, erfordert Selbstmanagementkompetenzen. Diese stellen eine Verknüpfung von emotionaler Kompetenz und sozialer Kompetenz dar und sind z.B. für den Schuleintritt wichtig. Metin kann alleine spielen und erhält einen Punkt.
Metin „kann sich [nicht erkennbar] an Regelspielen beteiligen“ (Petermann et al., 2017, S. 169).
Bei Spielen mit vorgegebenen Regeln (Regelspiele im Kreis, auf dem Spielbrett, mit Karten etc.) sind soziale Kompetenzen, wie Kooperation, sich Abwechseln und Teilen, gefragt. Metin beteiligt sich im Alltag nur äußerst selten an Regelspielen und erhält hier keinen Punkt.
Metin „lädt (…) keine anderen Kinder zum Mitspielen ein“ (Petermann et al., 2017, S. 41).
Andere Kinder anzusprechen ist eine soziale Kompetenz. Es bedarf der Kommunikation und positiven Selbstbehauptung. Metin zeigt dies nicht und erhält keinen Punkt.
Aufgabe 3 von 3
Ordnen Sie die folgenden Aussagen den unten stehenden nächsten drei von sechs Entwicklungsbereichen zu und achten Sie auf die von Metin gezeigten Kompetenzen und die damit erreichten Punkte.
Kognition (Denken)
Sprache
Emotionale Entwicklung
Metin „kann eine Pyramide aus drei Holzwürfeln nachbauen“ (Petermann et al., 2017, S. 41).
Bauen erfordert dreidimensionales – also räumliches – Sehen und Denken. Kindern gelingt dies etwa ab dem Ende des dritten Lebensjahres. Metin zeigt, dass er dies kann, und erhält einen Punkt.
Metin „kann eine Eins-zu-eins-Zuordnung“ (Petermann et al., 2017, S. 167).
Zwei Sorten von Gegenständen jeweils eins zu eins zuzuordnen ist eine Kompetenz des Denkens. Die Fähigkeit zum Gruppieren, zur Reihenbildung und eine erste Vorstellung des Zahlen- und Mengenbegriffs sind hier erforderlich. Metin zeigt, dass er dies kann und erhält einen Punkt.
Metin „kann (…) keine Größen unterscheiden und diese benennen“ (Petermann et al., 2017, S. 41).
Es ist ein Kennzeichen der kognitiven Entwicklung, Dinge nach Merkmalen zu ordnen und zu unterscheiden, z.B. nach Groß und Klein. Metin gelingt dies nicht und er erhält keinen Punkt.
Er „kann Bildinhalte [nicht] wiedergeben“ (Petermann et al., 2017, S. 167).
Die Entwicklung des Gedächtnisses gehört als Komponente des Denkens ebenfalls zur kognitiven Entwicklung. Die Original-Aufgabe beinhaltet, Bildkarten genau anzusehen und – nachdem diese wieder eingesammelt sind – die Motive auf den Bildern zu benennen. Metin gelingt dies nicht und er erhält keinen Punkt.
„Metin versteht Präpositionen wie ‚auf, unter, hinter, vor‘.“ (Petermann et al., 2017, S. 41)
Präpositionen sind Wörter und deren Beherrschung gehört zur Sprachkompetenz. Metin versteht diese Wörter und erhält einen Punkt.
Er „konnte sich kleine Geschichten nicht merken und sinngemäß wiedergeben“ (Petermann et al., 2017, S. 41).
Geschichten zu verstehen und wiederzugeben gehört zur Sprachkompetenz. Metin kann dies noch nicht und erhält keinen Punkt.
Er konnte „eigene Erlebnisse (…) nicht in der richtigen zeitlichen und logischen Reihenfolge erzählen“ (Petermann et al., 2017, S. 41).
Von Geschichten und Erlebnissen zu erzählen erfordert Sprachkompetenz. Metin kann dies noch nicht und erhält keinen Punkt.
Metin stellt kaum Fragen, z.B. „nach dem ‚Warum, Wieso, Weshalb, Wo und Wer‘“ (Petermann et al., 2017, S. 41).
Fragen zu stellen ist ein Ausdruck von verschiedenen Kompetenzen, u.a. im Bereich der kognitiven Entwicklung (Denken), der Motivation und dem Interesse, der sozialen Kompetenz und auch wesentlich der Sprachkompetenz. Metin stellt kaum Fragen und erhält keinen Punkt.
Metin kann „sein Verhalten sehr gut regulieren“ (Petermann et al., 2017, S. 41).
Verhaltensregulation meint die Anpassung des eigenen Bestrebens an die Anforderungen der sozialen Situation und des Miteinanders. Sie setzt voraus, dass die Emotionen anderer nachempfunden werden. Somit wird sie der emotionalen Entwicklung zugeordnet. Metin kann dies und erhält einen Punkt.
Er „kann seine Emotionen regulieren“ (Petermann et al., 2017, S. 171).
Es ist ein wichtiger Entwicklungsschritt, mit den eigenen Emotionen gut umgehen zu können. Metin kann dies meistens und erhält einen Punkt.
Metin kennt „keine Emotionswörter und benennt primäre Emotionen falsch (z.B. sagt er statt ‚fröhlich‘ ‚wütend‘)“ (Petermann et al., 2017, S. 41).
Emotionswissen und -verständnis sowie der sprachliche Emotionsausdruck sind wichtig für den angemessenen Umgang mit Emotionen. Metin zeigt diese Kompetenz nicht und er erhält keinen Punkt.
Metin „hat [k]ein positives Selbstwirksamkeitsempfinden“ (Petermann et al., 2017, S. 171).
Hier geht es darum, wie ein Kind seine Fähigkeiten einschätzt und was es sich zutraut. Dies gehört zur emotionalen Entwicklung. Nach der Einschätzung von Frau S. traut Metin sich im Vergleich mit anderen Kindern weniger zu. Er erhält keinen Punkt.
Die vorgestellten Entwicklungsbereiche spielen eine große Rolle für das Lernen von Kindern. Die benannten Aufgaben bzw. Beobachtungen nach Petermann et al. (2017) sind nur Beispiele dafür, was die meisten Kinder im Alter von vier Jahren können. In der Frühpädagogik sind weitere Entwicklungsbereiche von großer Bedeutung, z.B. die Entwicklung von Bindung, von Motivation, von Moral.
Die Beobachtung ist eine zentrale Methode, um Kinder als Individuen und in ihrer Entwicklung bewusst wahrzunehmen und zu erkennen.
Zum Fallbeispiel
Für Metin ergibt sich nach der Auswertung der Beobachtung folgende Tabelle[1]:
Die Ergebnisse auf der Basis systematischer Beobachtung verdeutlichen, dass Metins sprachliche Schwierigkeiten in viele Bereiche wirken: in den kognitiven, sozialen und emotionalen Bereich.
Die nächsten Schritte von Frau S. sind u.a. folgende (Petermann et al., 2017, S. 42):
Sie führt ein Gespräch mit den Eltern, berichtet ihnen von ihren Beobachtungen und verdeutlicht, dass Metin im Bereich der Sprache gefördert werden sollte. Sie spricht mit den Eltern ab, dass sie Metin in Zukunft täglich in den Kindergarten bringen. So kann er mehr Kontakte zu anderen Kindern aufbauen und hat noch mehr Gelegenheiten, Deutsch zu sprechen.
Im Team trifft Frau S. die Absprache, dass die Sprachentwicklung im Alltag mehr gefördert werden soll (Reimen, Singen, Vorlesen u.a.) und dass Metin regelmäßig an der Sprachfördergruppe teilnehmen wird. Die Beobachtung und Förderung der sprachlichen Entwicklung stehen im Vordergrund, weil dadurch auch in allen anderen Bereichen Entwicklungsfortschritte erwartet werden.
Die sozialen und emotionalen Anforderungen sollen „mit ihm und anderen Kindern spielerisch eingeübt werden“ (Petermann et al., 2017, S. 42).