Algebraische Geometrie ist die Synthese geometrischer Intuition mit der formalen Logik der Algebra. Ihr Einfluss geht weit über die Mathematik aus, von den Welten-Modellen der Physik bis hin zur Computeralgebra und Kryptographie in der Informatik.
Bereits in der Schule lernt man, eine algebraische Formel geometrisch zu interpretieren. Zu einer Funktion in einer Variablen X zeichnet man eine Kurve in der X-Y-Ebene: den Graphen der Funktion.
In diesem Beispiel wollen wir den umgekehrten Weg gehen. Wir beginnen mit einer Kurve (genauer: einem Graphen). Nach einer kurzen Vorüberlegung in Aufgabe 1 führen wir in Aufgabe 2 eine ‚Rechenregel‘ ein, mit der wir Punkte auf der Kurve ‚addieren‘ können. Alles was wir dazu benötigen ist ein Blatt Papier und ein Lineal.
Ihr Graph besteht aus allen Punkten \(P = (X,Y)\) mit der Eigenschaft, dass \(Y = f (X)\) gilt.
Welche der folgenden Aussagen trifft für den Graphen von \(f\) zu?
wahr
falsch
Für jeden Punkt \(P = (X,Y)\), der auf dem Graphen liegt, liegt auch der punktsymmetrisch gespiegelte Punkt \(P^* = (−X, −Y )\) auf dem Graphen.
Wenn \(P = (X,Y)\) auf dem Graphen liegt, dann gilt \(Y = X^3 - X\). Folglich gilt \(-Y = -X^3 + X = (-X)^3 - (-X)\). Also liegt auch \(P^* = (−X, −Y )\) auf dem Graphen.
Sind \(P\) und \(Q\) zwei verschiedene Punkte auf dem Graphen, dann schneidet jede Gerade durch \(P\) und \(Q\) den Graphen in insgesamt genau 3 Punkten.
Gegenbeispiele sind etwa die waagerechten Tangenten am lokalen Minimum und am lokalen Maximum von \(f\), aber auch jede andere Tangente.
Sind \(P\) und \(Q\) zwei verschiedene Punkte auf dem Graphen, dann schneidet jede Gerade durch \(P\) und \(Q\) den Graphen in insgesamt höchstens 3 Punkten.
Die Gerade durch \(P\) und \(Q\) wird durch eine Gleichung \(Y = aX + b\) beschrieben, wobei man \(a\) und \(b\) leicht aus \(P\) und \(Q\) berechnen kann. Die Schnittpunkte mit dem Graphen bestimmen wir aus der Gleichung \(aX + b = X^3 - X\). Da ein Polynom vom Grad 3 höchstens 3 Lösungen besitzt, gibt es höchstens drei Schnittpunkte.
Jede Gerade, die weder parallel zur Y–Achse noch parallel zur X-Achse ist, schneidet den Graphen in mindestens 2 Punkten
Die Wendetangente mit der Gleichung \(Y=-X\) schneidet den Graphen nur im Punkt (0,0). Es gibt noch viele weitere Gegenbeispiele.
Aufgabe 2 von 2
Mit etwas Nachrechnen kann man leicht herausfinden, dass die Gerade (siehe vorherige Aufgabe) durch zwei verschiedene Punkte \(P\) und \(Q\) auf dem Graphen nur dann keinen dritten Schnittpunkt besitzt, wenn sie bereits entweder in \(P\) oder in \(Q\) eine Tangente an den Graphen ist. Zur Vereinfachung der Darstellung wollen wir diesen Ausnahmefall im Folgenden ignorieren.
Wir bezeichnen den dritten Schnittpunkt mit \(R\). Zusammen mit seiner punktsymmetrischen Spiegelung \(R^*\) am Koordinatennullpunkt konstruieren wir damit eine Rechenregel ‚\(⊕\)‘ auf dem Graphen, indem wir definieren
\(P ⊕ Q = R^*\)
Gegeben sei der Koordinatennullpunkt N = (0, 0), sowie zwei weitere (verschiedene) Punkte \(P\) und \(Q\) auf dem Graphen. Welche der folgenden Aussagen trifft für die Rechenregel ‚\(⊕\)‘ zu?
wahr
falsch
Es gilt \(P ⊕ Q = Q ⊕ P \).
Die Gerade durch \(P\) und \(Q\) ist auch die Gerade durch \(Q\) und \(P\).
Es gilt \(P ⊕ N = P\).
Zeichnet man die Gerade durch \(P\) und den Koordinatennullpunkt \(N\), bekommt man als dritten Schnittpunkt genau das punktsymmetrische Spiegelbild zu \(P\). Also ist \(R=P^*\). Ein weiteres Mal spiegeln ergibt \(P ⊕ N = R^* = (P^*)^*=P\).
Es gibt einen Punkt \(\overline{P}\) auf dem Graphen mit \(P ⊕ \overline{P} = N\).
Der Punkt \(\overline{P}\) ist das punktsymmetrische Spiegelbild \(P^*\) zu \(P\). Das sieht man so: Die Gerade durch \(P\) und \(P^*\) geht genau durch den Koordinatennullpunkt \(N\). Also ist \(R=N\). Nach unserer Definition ist \(P ⊕ P^*=R^*=N^*=N\), denn der Koordinatennullpunkt ist sein eigenes Spiegelbild.
Liegt ein dritter Punkt \(S\) des Graphen auf der Geraden durch \(P\) und \(Q\), dann gilt \((P ⊕ Q) ⊕ S = N\).
Weil \(S\) auf der Geraden durch \(P\) und \(Q\) liegt, liefert die obige Konstruktion \(R=S\). Damit ist \(P ⊕ Q = S^*\). Damit ergibt sich \((P ⊕ Q) ⊕ S =S^*⊕ S\). Die Gerade durch \(S\) und \(S^*\) geht aber durch den Koordinatennullpunkt. Also ist \(S^*⊕ S= N^*=N\).
Mathematischer Hintergrund
Was wir hier konstruiert haben, ist eine sogenannte ‚Gruppenstruktur‘. Es ist eine Analogie zum Addieren ganzer Zahlen: Zwei Punkte \(P\) und \(Q\) ergeben einen neuen Punkt \(P ⊕ Q\). Der Punkt \(N\) übernimmt dabei die Rolle der Null, denn er erfüllt \(P ⊕ N=P\). Es gibt sogar ‚negative‘ Punkte \(-P\) (nämlich \(P^\ast\)) mit \(P ⊕ (-P)=0\).
Andere Beispiele von geometrischen Objekten, auf denen solche Rechenoperationen konstruiert werden können, sind elliptischen Kurven. Dabei ist der Sprachgebrauch irreführend: Tatsächlich existieren elliptische Kurven als Flächen im dreidimensionalen Anschauungsraum.
Ein Spezialfall ist der hier abgebildete Torus.
Anwendungen
Das Rechnen auf elliptischen Kurven spielt in der modernen Informationstechnologie (Kryptographie, Krypto-Währungen, etc.) eine Schlüsselrolle.