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Bildungswissenschaften – Beispiel: Erziehungswissenschaft

Das Quellen- und Literaturverzeichnis zu dieser Seite finden Sie hier.

Aufgabe 1 von 1

‚TINA UND DIE VÖGEL‘ – RECHNEN ERMÖGLICHEN UND BEOBACHTEN IM ERSTEN SCHULJAHR

Es ist die vierte Schulwoche eines ersten Schuljahres. Folgendes Aufgabenblatt wird von der Lehrkraft, die in diesem Fall alleine mit einer Gruppe von 5 Schüler*innen arbeitet (also nicht im Klassenverband), vorgelegt. Die Lehrkraft liest die Aufgabenstellung jeweils vor. Sie sehen, dass es sich hier um Aufgaben der Addition handelt, die zählend oder rechnend gelöst werden können. Die Aufgaben (vgl. Grassmann u.a. 2002) dienen einerseits den Schüler*innen dazu, ihr Können zu zeigen, und andererseits kann die Lehrkraft beobachten, was die Kinder können und wie sie bei der Lösung der Aufgaben vorgehen.

Auf dem Aufgabenblatt können Sie erkennen, dass ein Kind unterschiedliche Weisen findet, seine Ergebnisse zu präsentieren: mit Strichdarstellungen bzw. mit dem Zahlsymbol.

In der folgenden Aufgabe für Sie geht es nur um die 3. Aufgabe (!) auf dem Blatt. Die Lehrkraft liest den Kindern die Aufgabenstellung vor. Sie heißt:

„8 Vögel sitzen auf der Leitung.
Sechs Vögel kommen dazu.
Wie viele Vögel sind es?“

 

Abb. 1
Quelle des unausgefüllten Arbeitsblattes und der Aufgabenstellung: Grassmann, Marianne u.a. 2002: 9f.
Quelle des ausgefüllten Arbeitsblattes: Seminarunterlagen Ulrike Graf, publiziert in Graf 2008: 42.

 

Nach einem Gedächtnisprotokoll der Situation geschieht Folgendes, während die Lehrkraft das Geschehen beobachtet:

„Tina zählt die Vögel. Die anderen Schüler*innen sagen ihr, dass es 14 sind. Sie hatte ein anderes Ergebnis gezählt. Daraufhin zählt sie erneut – mehrmals, und jedes Mal erhält sie ein anderes Ergebnis. Die anderen bleiben dabei: Es sind 14 Vögel. Daraufhin streicht Tina beim nächsten Zähldurchgang jeweils den Vogel durch, den sie bereits erfasst hat. Es gelingt ihr jetzt, vierzehn Vögel zu zählen.“ (Graf 2008: 44 – Anmerkung: Auf dem abgebildeten Aufgabenblatt sind die Durchstreichungen der Vögel nicht zu sehen.)

In der beschriebenen Lernsituation können Beobachtungen zum Lehren und Lernen gemacht werden: (1.) dem Lernen von Tina, (2.) dem der anderen Schüler*innen sowie (3.) der Lernbegleitung der Lehrkraft.

Sie finden unten verschiedene Aussagen zu dem in der Situation beobachtbaren Können der verschiedenen Personen(gruppen) bezogen auf deren Lehr- und Lernverhalten.

Bei wem ist das jeweilige Können beobachtbar?

Tina
Die Mitschüler*innen
Die Lehrkraft

Sie braucht länger als die anderen und lässt sich nicht dadurch beirren.

Sie erprobt mehrere Wege.

Sie will die Lösung selbst finden.

Sie geben Raum, selbst eine Lösungsstrategie zu finden.

Sie gewähren die nötige Lernzeit für Tina.

Sie geben das Ziel vor.

Sie ermöglichen ein Erfolgserlebnis, welches das Kind sich selbst zuschreiben kann.

Sie gewährt die nötige Lernzeit für Tina und die anderen Schüler*innen.

Sie ermöglicht ein Erfolgserlebnis, welches das Kind sich selbst zuschreiben kann.

Sie gibt Raum, selbst eine Lösungsstrategie zu finden.

Hier finden Sie eine Analyse der Situation mit der beobachtenden Lehrkraft (eine Studentin im Praktikum), wie sie in der Seminargruppe zur Begleitung des Schulpraktikums an der Universität stattgefunden hat. In diesem Text können Sie Ihre eben vorgenommenen Zuordnungen abgleichen:


„Was hatte die Studentin auf die Situation aufmerksam werden lassen, sodass sie diese in das Auswertungsgespräch im Seminar eingebracht hat? Es war das Zusammenspiel von Tinas Beharrlichkeit, das richtige Ergebnis selbst finden zu wollen, und der indirekten methodischen Unterstützung der Gruppe.

Die Studentin zeigte sich beeindruckt von dem Weg, wie Tina zu ‚ihrem‘ richtigen Ergebnis gelangte. Durch Vorsagen alleine nicht. Tina hätte sich damit begnügen können, die oft genug von den anderen vernommene ‚14‘ in einer ihr bekannten Schreibweise aufs Papier zu bringen (als Symbol, wenn sie das schon kann, oder als ikonische Darstellung). Möglicherweise war es ihr wegen der Höhe der Zahl nicht möglich, einfach 14 Striche als ikonische Darstellung zu machen.

Die anderen Gruppenmitglieder bleiben – ebenso beharrlich – beim Repetieren des Ergebnisses. Niemand sagt: ‚Schreib einfach 14 hin‘ oder greift gar selbst zu Stift. Für Tina wird das stets erneute Gegenüberstellen der Ergebniszahlen zur indirekten methodischen Unterstützung, zum produktiven Strategiefinder der Eins-zu-Eins-Zuordnung. Ob Tina diese Art der Mengenerfassung aus anderen Zusammenhängen kennt und jetzt anwendet oder in diesem Moment selbst für sich ‚erfindet‘, gibt die Situation nicht preis. Sie hat das vorgesagte Ergebnis selbst erreicht. Ihre Leistung in dieser Situation verdankt Tina ihrer Beharrlichkeit und Anstrengungsbereitschaft, jeden Schritt auf dem Weg zur Lösung selbst gehen zu wollen.

Liest man die Situation auf der Folie der von Margaret Carr entwickelten fünf Lerndispositionen (Carr 2001)[1] interessiert sein, engagiert sein, standhalten bei Herausforderungen und Schwierigkeiten, sich ausdrücken und mitteilen sowie an der Lerngemeinschaft mitwirken und Verantwortung übernehmen, so hat Tina sich der Herausforderung der verschiedenen Ergebnisse gestellt und wurde mit einem Erfolg, der ihr eigener war, belohnt. Sie hat die Verantwortung für ihr Ergebnis übernommen. Ebenso haben die Gruppenmitglieder durch ihre ‚indirekte Mithilfe‘ an der Lerngemeinschaft mitgewirkt und ihren Part der Verantwortung getragen.

Welche Schlüsseleinsicht gewährt die Situation?
Dass die Studentin sich jeder eigenen Intervention enthalten hat, war erstens eine notwendige Voraussetzung, diese Situation beobachten zu können, und zweitens ein Merkmal ‚qualifizierten Nichtstuns‘, in dem sie ihre Kompetenzorientierung im Sinne des Zutrauens zum Ausdruck bringt. Nur so konnten sich die Gruppenmitglieder in ihrer produktiven dialogischen Rolle erfahren; und so hatte Tina Zeit und Raum ihren eigenen Weg zu finden.“ (Graf 2008: 44f.)