Praktische Theologie – Aktuelle Vorstellungen und Erwartungen an die Kirche
Dieses Aufgabengebiet wurde erstellt von Gerald Kretzschmar und Samuel Lacher.
Stellen Sie sich vor, Sie arbeiten im Jahr 2015 in der Praktischen Theologie an der Universität und ein Mitglied der Kirchenleitung nimmt mit Ihnen Kontakt auf. Es geht um einen Vortrag, in welchem der Weg der Kirche in den nächsten zehn Jahren skizziert werden soll. Hierfür werden Sie als Expert*in um Ihre Einschätzung gebeten, welche Vorstellungen und Erwartungen aktuell an die evangelische Kirche gestellt werden. Konkret geht es dabei um folgende Fragen: Welche Schwerpunkte soll die Kirche in den nächsten zehn Jahren setzen? Welche Arbeitsbereiche sind dabei zentral? Wie unterscheiden sich die Erwartungen von Kirchenmitgliedern und Menschen, die keiner Kirche angehören? All Ihre Beobachtungen könnten hilfreich sein, um in der Rede einen vielversprechenden Weg der Kirche in die Zukunft zu zeichnen. Als Grundlage Ihrer Einschätzung steht Ihnen eine Umfrage zur Verfügung, in der verschiedene Eindrücke zu den Aufgaben der Kirche deutlich werden.
Das dargestellte Diagramm zeigt die bildliche Umsetzung von Ergebnissen aus der fünften Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (kurz: KMU) der evangelischen Kirche in Deutschland. Die KMU ist eine 1972 erstmals und seither in zehnjährigem Rhythmus durchgeführte repräsentative Studie, also eine Umfrage, die nach wissenschaftlichen Standards eine allgemeine und stellvertretende Auskunft über die genannten Personengruppen geben kann. Ausschlaggebend hierfür ist neben einer großen Menge von befragten Personen auch deren Auswahl, also deren Verschiedenheit in Bezug auf Alter, Bildung, sozialem Hintergrund usw. Auftraggeber der Studie ist die evangelische Kirche in Deutschland. Mit der Vorbereitung und Durchführung der Repräsentativerhebung wurde die externe Firma TNS-Emnid Medien- und Sozialforschung GmbH beauftragt. Die Firma TNS-Emnid zählt neben infratest dimap und anderen Instituten zu den großen bundesdeutschen Marktforschungsinstituten, die regelmäßig für Studien der Wahlforschung und weitere repräsentativen Bevölkerungsumfragen von öffentlichen Auftraggebern beauftragt werden. Die evangelische Kirche verspricht sich durch die repräsentativen Befragungen orientierende Schärfungen für das eigene theologische und praktische Profil. Die hier abgebildeten Erhebungen stammen aus dem standardisierten Fragebogen der fünften KMU, die vom 15. Oktober bis 15. Dezember 2012 durchgeführt wurde.
Beurteilung des Geltungsbereichs der abgebildeten Einstellungen
Die abgebildeten Ergebnisse zeigen Einstellungen zum Engagement der evangelischen Kirche in Deutschland, jeweils stellvertretend für die beiden angegebenen Personengruppen: Mitglieder der evangelischen Kirche (EV) und Konfessionslose (KL). Die Umfrage entspricht den wissenschaftlichen Kriterien einer repräsentativen Umfrage (hinsichtlich der Anzahl und Auswahl der Befragten) und wurde von einem unabhängigen Institut durchgeführt. Zu beachten ist, dass die Grafik verschiedene Antwortmöglichkeiten vereinheitlicht darstellt. Die eigentliche Abstimmung erfolgte mithilfe einer Skala von 1 ‚Trifft überhaupt nicht zu‘ bis 7 ‚Trifft voll und ganz zu‘. Die Antwortmöglichkeiten 1-3 werden abgebildet als ‚trifft nicht zu‘, die Antwortmöglichkeiten 5-7 als ‚trifft zu‘.
Aufgabe 2 von 5
PRÄSENTATION
Wie werden die Ergebnisse im Schaubild dargestellt? Wie ist das Schaubild strukturiert?
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Anordnung aufsteigend nach jeweiliger Zustimmung zur gestellten Frage. Orientiert ist die Reihenfolge an den Konfessionslosen (KL).
Die Anordnung verläuft absteigend, nicht aufsteigend und orientiert sich an den Mitgliedern der evangelischen Kirche (EV), nicht an den Konfessionslosen (KL).
Zusammenfassung verschieden gestufter Antwortmöglichkeiten unter ‚trifft nicht zu‘ und ‚trifft zu‘.
Die Antwortmöglichkeiten sind laut Schaubild gegeben.
Anordnung absteigend nach jeweiliger Zustimmung zur gestellten Frage. Orientiert ist die Reihenfolge an den Mitgliedern der evangelischen Kirche (EV).
Diese Beobachtung zur Anordnung ist korrekt.
Zusammenfassung verschieden gestufter Antwortmöglichkeiten unter ‚überhaupt nicht‘ und ‚in hohem Maße‘.
Die Angaben erfolgen auf einer siebenpoligen Skala von ‚Trifft überhaupt nicht zu‘ bis ‚Trifft voll und ganz zu‘. Zusammengefasst werden die Pole 1-3 als ‚trifft nicht zu‘ und die Pole 5-7 als ‚trifft zu‘.
Die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen beziehen seit der Wende auch die Voten konfessionsloser Menschen mit ein. Konkret wurden im Rahmen der dritten KMU 1992 erstmals neben Mitgliedern der evangelischen Kirche auch Konfessionslose befragt. Im Hinblick auf die ostdeutsche Bevölkerung war dies wichtig, weil ein Großteil der Menschen in Ostdeutschland keiner Religionsgemeinschaft angehört und man daran interessiert war, zu erfahren, wie konfessionslose Menschen in Ostdeutschland zur evangelischen Kirche stehen. In Westdeutschland ist die Befragung konfessionsloser Personen für die Kirche von Interesse, weil die Austrittszahlen sich seit einigen Jahren auf einem konstant hohen Niveau bewegen und man mehr über die Hintergründe des Kirchenaustrittes so vieler Menschen erfahren möchte. Von Interesse ist aber auch herauszufinden, ob mit dem Austritt aus der evangelischen Kirche die Kirche als Institution als ganze abgelehnt wird, oder ob es trotz des Austrittes Formen der Kirchenbindung jenseits der Mitgliedschaft gibt.
Aufgabe 3 von 5
INHALTLICHE AUSWERTUNG 1: GRUPPIERUNG
Die im Schaubild genannten Bereiche können zu verschiedenen Aufgabenfeldern kirchlichen Handelns gruppiert werden. Drei mögliche Aufgabenfelder lauten ‚Diakonisch-helfendes Handeln‘, ‚Liturgisch-gottesdienstliches Handeln‘ und ‚Sonstige Aufgaben mit Ausrichtung auf die gesamte Gesellschaft‘.
Welche im Schaubild genannten Bereiche kirchlichen Handelns lassen sich welchem der drei Aufgabenfelder ‚Diakonisch-helfendes Handeln‘, ‚Liturgisch-gottesdienstliches Handeln‘ und ‚Sonstige Aufgaben mit Ausrichtung auf die gesamte Gesellschaft‘ zuordnen?
Diakonisch-helfendes Handeln
Liturgisch-gottesdienstliches Handeln
Sonstige Aufgaben mit Ausrichtung auf die gesamte Gesellschaft
Arme, Kranke und Bedürftige behandeln
sich um Probleme von Menschen in sozialen Notlagen kümmern
sich um Arbeitsalltag und Berufsleben kümmern
Gottesdienste feiern
Raum für Gebet, Stille und persönliche Besinnung sein
die christliche Botschaft verkünden
für Werte eintreten, die für unser Zusammenleben wichtig sind
Gelegenheit für gesellige Begegnung bieten
kulturelle Angebote machen
sich zu politischen Grundsatzaufgaben äußern
Die drei genannten Handlungsfelder lassen sich aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Reflexionsperspektiven trennscharf voneinander unterscheiden. Spannend ist hier, dass die Priorisierungen der befragten Personen und die in der Wissenschaft verwendeten Deutungskategorien nahezu deckungsgleich sind. Im Zeitreihenvergleich seit 1972 hat sich an dieser Sachlage kaum etwas geändert. Die Priorisierung kirchlicher Handlungsfelder durch die Mitglieder der evangelischen Kirche ist seit einigen Jahren für die Kirchenleitungen von besonderem Interesse. Aufgrund zurückgehender Ressourcen bei Mitgliedern, Finanzen und Personal stehen kirchenleitende Gremien regelmäßig vor der Aufgabe, über Prioritäten im kirchlichen Handeln nachzudenken. Neben theologischen und organisatorischen Gründen stellen die Voten der Kirchenmitglieder dabei eine wichtige Orientierungshilfe dar.
Aufgabe 4 von 5
INHALTLICHE AUSWERTUNG 2: SPEZIFISCHER FOKUS
Wie schätzen Sie die Zustimmungswerte der konfessionslosen Befragten (KL) ein? Was fällt Ihnen dabei im Vergleich zu den Mitgliedern der evangelischen Kirche (EV) auf?
Deutlich erkennbar ist die im Vergleich zu den Mitgliedern der evangelischen Kirche (EV) durchgehend geringere Zustimmung der Konfessionslosen (KL) zum kirchlichen Engagement in den unterschiedlichen Bereichen. Doch auch die Zustimmungswerte der Konfessionslosen sind insgesamt überraschend hoch – überraschend deshalb, weil man vermuten könnte, dass mit der Konfessionslosigkeit ein Desinteresse an kirchlichen Aktivitäten und Fragestellungen einhergehen könnte. Das ist aber nicht der Fall. In Bezug auf sechs von zehn Bereichen ist unter den Konfessionslosen die Gruppe derjenigen, die kirchlichem Engagement (eher) zustimmt, größer ist als die Gruppe, die kirchliches Engagement (eher) ablehnt. Und nur bei zwei der zehn Handlungsfelder zeigt sich eine mehrheitliche Ablehnung gegenüber kirchlichem Engagement unter den Konfessionslosen.
Die Hierarchie der Aufgabenfelder, die sich aus den Zustimmungswerten ableiten lässt, ist für beide Gruppen weitgehend identisch, sodass sich prinzipiell dieselbe Priorisierung der in Aufgabe 3 beschrieben kirchlicher Handlungsfelder ergibt.
Aufgabe 5 von 5
GESAMTINTERPRETATION
Welche Ratschläge würden Sie an das Mitglied der Kirchenleitung ausgehend von den bisherigen Beobachtungen weitergeben? Beachten Sie dabei:
Was kann über Erwartung, Anspruch und Zustimmung der Kirchenmitglieder (EV) zu den Arbeitsbereichen der evangelischen Kirche ausgesagt werden?
Welche Rolle könnten Konfessionslose (KL) in diesem Ausblick spielen?
Auf welche Handlungsfelder sollte die Kirche in den kommenden zehn Jahren achten?
Erwartung, Anspruch, Zustimmung
Durch die sehr hohen Zustimmungswerte der Kirchenmitglieder (EV) in allen Bereichen (in Bezug auf alle zehn Punkte ist der Anteil derjenigen, die kirchlichem Engagement zustimmen deutlich höher als der Anteil derjenigen, die kirchliches Engagement ablehnen) zeigt sich sowohl eine hohe Zustimmung zum kirchlichen Handeln als auch eine hohe Erwartungshaltung an die Kirche. Diese Erwartungshaltung gilt auch den Aufgabenfeldern der unteren Platzierungen. Daraus ergibt sich zweierlei. Zum einen sollte die Kirche trotz zurückgehender Ressourcen bei Mitgliedern, Personal und Finanzen dafür Sorge tragen, dass die auf den oberen Rangplätzen genannten kirchlichen Handlungsfelder in hoher Qualität fortgeführt werden. Zum anderen sollten sich kirchenleitende Gremien darüber im Klaren sein, dass Kürzungen und Streichungen in den Handlungsfeldern auf den unteren Positionen nicht unproblematisch sind, weil auch diese in der Mitgliederwahrnehmung wichtige Bestandteile des kirchlichen Handelns sind. Damit ist in gewisser Weise ein Dilemma formuliert. Um in spezifischen Kontexten konkrete Entscheidungen zu treffen, sollten daher unbedingt die konkreten Verhältnisse vor Ort betrachtet werden und in die Entscheidungsfindung miteinbezogen werden. Zu beachten ist aber auf jeden Fall, dass die Aufgabe auch der unteren Handlungsfelder für viele Kirchenmitglieder unverständlich wäre. Auch bei knapper werdenden Ressourcen sollten diese Handlungsfelder exemplarisch und punktuell fortgeführt werden.
Rolle der Konfessionslosen (KL)
Auch aus Sicht der Konfessionslosen (KL) ist die hohe Erwartungshaltung an die allermeisten der abgefragten Aufgabenfelder zu unterstreichen. Dies sollte sowohl in der Ausrichtung der Handlungsfelder als auch in verschiedenen Kommunikationsprozessen mit Konfessionslosen berücksichtigt werden. Die Berücksichtigung der Voten konfessionsloser Menschen ist in der gegenwärtigen Situation eines sehr hohen Niveaus der Kirchenaustrittszahlen besonders wichtig, weil die Kirche Kenntnisse darüber benötigt, inwiefern der Kirchenaustritt gleichbedeutend ist mit dem völligen Ende der Kirchenbindung, oder ob trotz des Kirchenaustritts weiterhin Formen der Kirchenbindung bestehen. Perspektivisch wird es notwendig sein, kirchliches Handeln nicht nur unter dem Gesichtspunkt der rechtlichen Kirchenmitgliedschaft zu konzipieren, sondern unter dem Gesichtspunkt der Kirchenbindung. Die im Vergleich zu anderen Aufgabenfeldern niedrigere Zustimmung zu den Aufgabenfeldern ‚sich um Arbeitsalltag und Berufsleben kümmern‘ und ‚sich zu politischen Grundsatzfragen äußern‘ weisen darauf hin, dass diese Themen weniger bindungsrelevant als andere sind. Sollen Formen der Kirchenbindung jenseits der rechtlichen Mitgliedschaft gepflegt und gestärkt werden, ist es für die Kirche empfehlenswert, vor allem den an den oberen Positionen platzieren Erwartungshaltungen verstärkt gerecht zu werden und dabei auch die Zielgruppe der Konfessionslosen im Blick zu behalten.
Relevante Handlungsfelder
Die wichtigsten Aufgabenfelder liegen im diakonisch-helfenden und liturgisch-gottesdienstlichen Handeln: Darin spiegelt sich der Zusammenhang von christlichem Handeln (Diakonie/Hilfe) und christlichem Denken (Liturgie/Gottesdienst). Beides zusammen soll in einem dritten, etwas untergeordneten Handlungsfeld auch in der gesamten Gesellschaft erlebbar sein.
Allerdings sollte beim Umgang mit empirischen Daten berücksichtig werden, dass diese nie in direkte praktische Handlungsanweisungen übersetzbar sind. Zum einen bedürfen sie der theoriegeleiteten Reflexion, d.h. sie müssen mit den ideellen Hintergründen einer Organisation ins Gespräch gebracht werden. Zum anderen sind die organisatorischen Rahmenbedingungen daraufhin zu befragen, inwiefern empirisch gewonnene Daten bei der Weiterentwicklung der Organisation berücksichtigt werden können. Trotz dieser Einschränkungen gilt: Empirische Daten zählen zu den wichtigen Orientierungspunkten bei der Gestaltung von Organisationsstrukturen. So ist dies auch in der kirchlichen Organisation der Fall.