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Neues Testament – Einführung in die historisch-kritische Exegese

Dieses Aufgabengebiet wurde erstellt von Manuel Nägele und Nadine Quattlender.


Im Folgenden können Sie einige der für die historisch-kritische Exegese klassischen Methodenschritte kennenlernen. Der Fokus liegt im Folgenden auf der Textkritik (Wie lautet der ursprüngliche Wortlaut des neutestamentlichen Textes überhaupt?), der Literarkritik (Wie sind die neutestamentlichen Autoren mit ihren Quellen umgegangen?), der Kontextanalyse (Wo beginnt und wo hört ein Textabschnitt auf?) und der Traditions- und Motivgeschichte (Welche Motive hat der Autor in seinem Text verarbeitet und woher kommen diese Vorstellungen?).

Für die Bearbeitung dieser Aufgaben benötigen Sie eine Bibel (Onlinebibeln finden Sie z.B. unter www.bibelwissenschaft.de). Bibelstellen werden angegeben, indem zunächst der Titel der biblischen Schrift, dann die Nummer des Kapitels und zuletzt die Nummer des Verses genannt werden, z.B. Lukas 8,22 (=achtes Kapitel des Lukasevangeliums, 22. Vers).

Wenn Sie Näheres zu den Methodenschritten Übersetzung, Gliederung und der Redaktionsgeschichte (wird auch Kompositionsgeschichte genannt) erfahren wollen, dann schauen Sie sich die Aufgaben aus dem Bereich Altes Testament an. Dort finden Sie außerdem nochmals eine Aufgabe zur Traditions- und Motivgeschichte.


Das Quellen- und Literaturverzeichnis zu dieser Seite finden Sie hier.

Aufgabe 1 von 5

METHODENSCHRITT TEXTKRITIK

Das Neue Testament entstand ab der Mitte des 1. Jh. n.Chr. Die frühesten Schriften gehen auf den Apostel Paulus zurück, der an seine Gemeinden zur Ermutigung und Ermahnung oder zur Klärung von theologischen Streitigkeiten Briefe schrieb. Leider besitzen wir von keiner neutestamentlichen Schrift ein originales Schriftstück. D.h. der ursprüngliche Text, der auf die neutestamentlichen Autoren zurückgeht, muss rekonstruiert werden.

Da bereits die frühen Christen und Christinnen angefangen haben, die Briefe des Paulus oder die Evangelien zu vervielfältigen, gibt es enorm viele Kopien aus der Zeit ab dem frühen 3. Jh. Diese Kopien bezeichnet man auch als Handschriften. Sie reichen von Schnipseln in Briefmarkengröße, die nur wenige Buchstaben enthalten, bis hin zu kompletten Abschriften eines Briefes oder Evangeliums. Die Menschen damals hatten natürlich keinen Kopierer, sondern haben eigenhändig Wort für Wort abgeschrieben.

Es sollte bei so vielen Kopien eigentlich nicht sehr schwer sein, das Original, das Paulus auf seinem Schreibtisch hatte, zu rekonstruieren. Das Problematische an einer solchen Rekonstruktion des ursprünglichen Textes liegt aber darin, dass die vielen Handschriften immer wieder voneinander abweichen. Das kann an einem Versehen des Abschreibers oder der Abschreiberin liegen, manchmal erkennt man aber auch eine bewusste Veränderung des Textes. Wenn man die Handschriften miteinander vergleicht, stellt sich also die Frage: Wer hat richtig abgeschrieben? Welcher Text ist originalgetreu und welcher weicht vom ursprünglichen Text ab? Um das herauszufinden, hat man den Methodenschritt der Textkritik entwickelt.

Vergleicht man verschiedene Handschriften des Lukasevangeliums miteinander, dann kann man beispielsweise in Lukas 8,24 einen solchen Unterschied feststellen.
 

Lukas 8,22–25 (Luther 1984)[1]Version 1
22 Und es begab sich an einem der Tage, dass er in ein Boot stieg mit seinen Jüngern; und er sprach zu ihnen: Lasst uns über den See fahren. Und sie stießen vom Land ab. 23 Und als sie fuhren, schlief er ein. Und es kam ein Windwirbel über den See und die Wellen überfielen sie, und sie waren in großer Gefahr. 24 Da traten sie zu ihm und weckten ihn auf und sprachen: Meister, Meister, wir kommen um! Da stand er auf und bedrohte den Wind und die Wogen des Wassers, und sie legten sich und es entstand eine Stille. 25 Er sprach aber zu ihnen: Wo ist euer Glaube? Sie aber fürchteten sich und verwunderten sich und sprachen zueinander: Wer ist dieser? Auch dem Wind und dem Wasser gebietet er und sie sind ihm gehorsam.

Quelle: https://www.bibelwissenschaft.de/bibelstelle/Lk8,22-25/LU/ (abgerufen am 23.07.2019) [Hervorhebungen vom Aufgabensteller]
 

In den ersten Handschriften, die in Griechisch, der Sprache des Neuen Testaments, geschrieben sind, lautet diese Version wie folgt:

22 Ἐγένετο δὲ ἐν μιᾷ τῶν ἡμερῶν καὶ αὐτὸς ἐνέβη εἰς πλοῖον καὶ οἱ μαθηταὶ αὐτοῦ καὶ εἶπεν πρὸς αὐτούς· διέλθωμεν εἰς τὸ πέραν τῆς λίμνης, καὶ ἀνήχθησαν. 23 πλεόντων δὲ αὐτῶν ἀφύπνωσεν. καὶ κατέβη λαῖλαψ ἀνέμου εἰς τὴν λίμνην καὶ συνεπληροῦντο καὶ ἐκινδύνευον. 24 προσελθόντες δὲ διήγειραν αὐτὸν λέγοντες· ἐπιστάτα ἐπιστάτα, ἀπολλύμεθα. ὁ δὲ διεγερθεὶς ἐπετίμησεν τῷ ἀνέμῳ καὶ τῷ κλύδωνι τοῦ ὕδατος· καὶ ἐπαύσαντο καὶ ἐγένετο γαλήνη. 25 εἶπεν δὲ αὐτοῖς· ποῦ ἡ πίστις ὑμῶν; φοβηθέντες δὲ ἐθαύμασαν λέγοντες πρὸς ἀλλήλους· τίς ἄρα οὗτός ἐστιν ὅτι καὶ τοῖς ἀνέμοις ἐπιτάσσει καὶ τῷ ὕδατι, καὶ ὑπακούουσιν αὐτῷ;

Quelle: https://www.bibelwissenschaft.de/bibelstelle/ Lk8,22-25/NA/ (abgerufen am 23.07.2019) [Hervorhebungen vom Aufgabensteller]
 

Lukas 8,22–25 – Version 2
22 Und es begab sich an einem der Tage, dass er in ein Boot stieg mit seinen Jüngern; und er sprach zu ihnen: Lasst uns über den See fahren. Und sie stießen vom Land ab. 23 Und als sie fuhren, schlief er ein. Und es kam ein Windwirbel über den See und die Wellen überfielen sie, und sie waren in großer Gefahr. 24 Da traten sie zu ihm und weckten ihn auf und sprachen: Herr, Herr, wir kommen um! Da stand er auf und bedrohte den Wind und die Wogen des Wassers, und sie legten sich und es entstand eine Stille. 25 Er sprach aber zu ihnen: Wo ist euer Glaube? Sie aber fürchteten sich und verwunderten sich und sprachen zueinander: Wer ist dieser? Auch dem Wind und dem Wasser gebietet er und sie sind ihm gehorsam.

Quelle: https://www.bibelwissenschaft.de/bibelstelle/Lk8,22-25/LU/ (abgerufen am 23.07.2019) [Die Änderung des hervorgehobenen Titels „Herr, Herr“ erfolgte als Übersetzung des griechischen Wortlauts, der im Nestle-Aland im textkritischen Apparat zu Lk 8,24 als zweite Variante angegeben wird nach Aland, Aland et al., Hgg., Novum Testamentum Graece, 213, textkritischer Apparat zu V. 24.]
 

22 Ἐγένετο δὲ ἐν μιᾷ τῶν ἡμερῶν καὶ αὐτὸς ἐνέβη εἰς πλοῖον καὶ οἱ μαθηταὶ αὐτοῦ καὶ εἶπεν πρὸς αὐτούς· διέλθωμεν εἰς τὸ πέραν τῆς λίμνης, καὶ ἀνήχθησαν. 23 πλεόντων δὲ αὐτῶν ἀφύπνωσεν. καὶ κατέβη λαῖλαψ ἀνέμου εἰς τὴν λίμνην καὶ συνεπληροῦντο καὶ ἐκινδύνευον. 24 προσελθόντες δὲ διήγειραν αὐτὸν λέγοντες·κύριε κύριε, ἀπολλύμεθα. ὁ δὲ διεγερθεὶς ἐπετίμησεν τῷ ἀνέμῳ καὶ τῷ κλύδωνι τοῦ ὕδατος· καὶ ἐπαύσαντο καὶ ἐγένετο γαλήνη. 25 εἶπεν δὲ αὐτοῖς· ποῦ ἡ πίστις ὑμῶν; φοβηθέντες δὲ ἐθαύμασαν λέγοντες πρὸς ἀλλήλους· τίς ἄρα οὗτός ἐστιν ὅτι καὶ τοῖς ἀνέμοις ἐπιτάσσει καὶ τῷ ὕδατι, καὶ ὑπακούουσιν αὐτῷ;

Quelle: https://www.bibelwissenschaft.de/bibelstelle/Lk8/NA/ (abgerufen am 23.07.2019) [Die Änderung des hervorgehobenen Titels „κύριε κύριε“ stellt den griechischen Wortlaut dar, der im Nestle-Aland im textkritischen Apparat zu Lk 8,24 als zweite Variante angegeben wird nach Aland, Aland et al., Hgg., Novum Testamentum Graece, textkritischer Apparat zu V. 24.]
 

Wie unschwer zu erkennen ist, reden die Jünger Jesus einmal mit ‚Meister, Meister‘ und einmal mit ‚Herr, Herr‘ an. Die Begriffe, die dafür im Griechischen stehen, unterscheiden sich deutlich und haben eine unterschiedliche Bedeutung. Manchmal hat sogar ein und derselbe Begriff mehrere Bedeutungen, die sich im Deutschen unterschiedlich wiedergeben lassen. Was in so einem Fall zu beachten wäre, können Sie in der Übersetzungsaufgabe im Bereich Altes Testament erfahren.

Bei der Überlegung, welche Version nun die richtige ist, können verschiedene Kriterien helfen, zu einer Entscheidung zu gelangen. Natürlich ist das mal mehr und mal weniger einfach und ganz sicher kann man sich bei der Entscheidung nie sein. Aber zumindest Wahrscheinlichkeitsurteile lassen sich fällen.

Geht man von inneren Kriterien aus, d.h. Kriterien, die sich am Inhalt orientieren, dann fällt sehr schnell auf, dass im Lukasevangelium die Anrede ‚Herr‘ (oder die Bezeichnung Jesu als ‚Herr‘) viel häufiger (über 20 Mal) vorkommt als die Anrede ‚Meister‘. Lukas hat offenbar lieber das Wort ‚Herr‘ verwendet, um von Jesus zu schreiben. Hinzu kommt die Beobachtung, dass die Anrede ‚Meister‘ nur an zwei von sechs Stellen von allen Handschriften überliefert wird. Die anderen Belege sind wie hier in Lukas 8,24 nicht von allen Handschriften bezeugt. Das würde dafür sprechen, dass die Textversion von Lukas 8,24 mit ‚Herr, Herr‘ eher dem Schreibstil von Lukas entspricht.

Neben den inneren Kriterien gibt es noch die sogenannten äußeren Kriterien. Diese betreffen die Qualität der Handschriften. Interessant ist vor allem das Alter der Handschriften. Argumente, die den äußeren Kriterien entspringen, sind grundsätzlich gewichtiger als Argumente, die sich am Inhalt orientieren. Die früheste Handschrift, auf der die erste Version des Textes mit ‚Meister, Meister‘ zu lesen ist, stammt aus dem 4. Jh. Die früheste Handschrift der 2. Version mit ‚Herr, Herr‘ aus dem 5. Jh.

Versuchen Sie anhand der vorangegangenen Informationen den wahrscheinlich ursprünglicheren Text von Lukas 8,24 zu rekonstruieren.

Bitte auswählen

Der ursprüngliche Text von Lukas 8,24 muss lauten: Herr, Herr, wir kommen um!

Der ursprüngliche Text von Lukas 8,24 muss lauten: Meister, Meister, wir kommen um!

Die Textversion mit ‚Herr‘ wird von einer jüngeren Handschrift bezeugt (5. Jh.) als die Version mit ‚Meister‘. Version 1 ist zeitlich näher am Original, wohingegen die Wahrscheinlichkeit, dass sich bei Version 2 andere Gedanken eingeschlichen haben, größer ist, da es zeitlich noch weiter vom Original entfernt ist. Trotz der Vorliebe von Lukas für ‚Herr‘, ist die Version mit ‚Meister‘ vorzuziehen. (Argumente der äußeren Kritik sind gewichtiger als die der inneren.)

Die Entscheidung ist natürlich nicht immer so eindeutig zu treffen wie in diesem Fall. Höchst umstritten ist z.B. die Frage, ob das Markusevangelium Jesus bereits in seinem ersten Vers (Markus 1,1) als Sohn Gottes bezeichnet oder nicht.

Es kann außerdem auch sein, dass es auf der einen Seite nur eine Handschrift für eine Textversion gibt, auf der anderen Seite ganz viele Handschriften für eine andere Version und trotzdem die Textversion, die nur von einer Handschrift bezeugt wird, die wahrscheinlich ursprünglichere ist.

Auch hier in Lukas 8,24 macht es für damalige Hörer und Hörerinnen einen Unterschied, ob Jesus mit ‚Meister‘ oder mit ‚Herr‘ angesprochen wird. Immerhin ist ‚Herr‘ (griechisch: kyrios) die Bezeichnung Gottes im griechischen Alten Testament, wie es in der Übersetzungsaufgabe aus dem Bereich Altes Testament erklärt wird. Überhaupt ist das Alte Testament eine wichtige Hintergrundfolie für das richtige Verständnis der neutestamentlichen Schriften. In der Aufgabe zur Traditions- und Motivgeschichte (Aufgabe 4) können Sie herausfinden, welche alttestamentlichen Motive in Lukas 8 aufgegriffen werden und wie dadurch die Aussage des Textes an Schärfe gewinnt.